LESEPROBE

 

Ferkelkauf statt Schulbesuch



Einige Tage nach der verpfuschten Wursterei sprach die Mutter zum Vater: „Heuer haben wir reichlich Kartoffeln geerntet. Da wäre es durchaus möglich, noch ein Schwein heranzufüttern. Beim Hacklbauer zu Bubach am Forst gibt es derzeit Jungferkel zu kaufen. Am besten, wir holen so schnell wie möglich eines ab."
Am nächsten Tag in aller Frühe machte sich der Vater mit einem großen Sack auf den Weg. Mein Bruder Schorsch bettelte den Vater solange, bis er ihn begleiten durfte. Warnend rief ihnen die Mutter zu: „Dass ihr mir ja im Wirtshaus zu Bubach nicht einkehrt, sonst reicht das Geld für einen guten Kauf nicht mehr aus. Zum Schluss bringt ihr mir das schäbigste Schwein, das weder hinten, noch vorne nichts wird. Seid gescheit und macht ein gutes Geschäft."

Danach verließen der Vater und der Schorsch wohlgelaunt das Haus. Meine Mutter sah ihnen noch lange nach, faltete dann die Hände und wisperte ein Gebet vor sich hin. Für mich wurde es allerhöchste Zeit zum Schulgang. „Bub, vergiss nicht, den Schorsch beim Lehrer zu entschuldigen. Sag eben, er müsste heute auf das kleine Brüderchen Simmerl aufpassen, weil niemand zu Hause ist", rief mir die Mutter nach. Ich war alles andere als erfreut. Zu oft blieb mein Bruder der Schule fern. Die Gründe für seine Schulschwänzerei waren dabei äußerst durchsichtig.

Kurz nach Schulbeginn war ich gezwungen, mich zu melden, um meinen Bruder zu  entschuldigen. Zu allem Unglück schien der Lehrer heute schlecht aufgelegt zu  sein. Sein wildes Geschau jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Kaum hatte ich stotternd die Entschuldigung für meinen Bruder Schorsch vorgebracht, brüllte  der Lehrer auch schon los: „Dein Bruder ist wohl verrückt geworden. Alle  Augenblicke fehlt er in der Schule. Das eine Mal hat er Zahnweh, dann  Magengrübeln, das nächste Mal spielt er Kindsmagd und so geht in einem fort. Dabei hätte er den Unterricht so bitter nötig wie der Bettler ein Stück Brot."

Gehörige Wut im Bauch

 

Kein Schüler wagte auch nur eine Bewegung. Ein richtiger Groll kroch in mir hoch. Während ich das Geschrei des Lehrers ertragen musste, machte sich der  Schorschi ein schönes Leben. Wahrscheinlich hockte er mit dem Vater in einer stickigen  Bauernwirtschaft und ließ sich das süffige Bier aus dem Steinkrug munden. Zu allem Unglück gab es gegen Schulschluss noch eine gesalzene Hausaufgabe in  Rechnen und Deutsch. Dabei ermahnte mich der erboste Lehrer eigens noch einmal, dem Schorsch ja die Hausaufgabe zu übermitteln. Mit einer gehörigen Wut im Bauch, beschloss ich der Mutter reinen Wein einzuschenken. Ich war nicht mehr gewillt auszubaden, was der Schorsch mit seiner Schulschwänzerei  anrichtete. Es kam allerdings ganz anders als ich es mir vorgestellt hafte. Meine Mutter war nicht anzutreffen in der Küche. Stattdessen lag ein Zettel auf dem Küchentisch. Darauf stand: „Kare, das Essen ist in der Rein. Musst auf den Kleinen schauen und zu Hause bleiben! Vater und Schorsch werden vor Einbruch der Dunkelheit nicht heimkommen. Kannst derweilen dem Schorsch seine Hausaufgabe machen. Ich bin beim Hef- lerschmied zum Tagwerken. Es wird gewiss spät werden, bis ich heimkomme."
Kaum hatte ich den Zettel zu Ende gelesen, plärrte auch schon mein kleines Brüderchen Simon von der Stube herüber. Die anderen Brüder waren mit dem Anschlichten des Holzes im Schuppen beschäftigt. Eigentlich wollte ich heute mit dem Gleixner Sepp zum Eichkatzl jagen ins Kulzerhölzl gehen, doch daraus wurde nun nichts. Ich musste mich den Begebenheiten unterordnen. Kurz nach Sonnenuntergang kam die Mutter abgerackert von der Arbeit heim. Obwohl ich versucht hatte, soviel wie möglich für sie zu erledigen, gab es noch reichlich zu tun. Zunächst mussten die Ziegen gefüttert und gemolken werden. Anschließend galt es, die verbliebenen häuslichen Arbeiten zu erledigen. Zum Schluss kam die Versorgung von uns Kindern an die Reihe. Die Mutter goss jedem eine Tasse Malzkaffee ein und reichte dazu ein Stück Brot. Erst jetzt, als wir alle an einem Tisch saßen, hatte ich Gelegenheit, der Mutter mein Leid zu klagen. Seufzend gestand sie mir: „Ja, ich weiß schon, dass der Schorsch gar nicht gerne zur Schule geht und jede nur erdenkliche Ausrede erfindet, um die Schule zu schwänzen. Aber manchmal kann ich ihn doch notwendig gebrauchen. Von euch anderen kann keiner die Kindsmagd so gut machen wie er. Besonders beim Trockenlegen des Kleinen stellt er sich mit Abstand am geschicktesten an. Kare! Mach ihm halt noch schnell die Hausaufgabe, damit er morgen keine Prügel vom Lehrer bekommt. Die Beiden kommen gewiss spät heim, weil sie noch eingekehrt sind."

Den Spanischen in der Hand


Schon viele Stunden brannte die gelblich- leuchtende Petroleumlampe in der düsteren Küche. Beide Zeiger der Uhr bewegten sich auf Mitternacht zu.
Ich schlief schon fest, als ich plötzlich von lautem Geschrei geweckt. Der Schorsch stand vor meimen Bett und lallte wie ein Be- soffener. Prahlerisch stellte er sich vor mich, schwankte hin und her und schwärm- te: „Heiße Knackwürste mit Kipferl und Spitzl hat es gegeben. Dazu Bier, soviel die Gurgel hat packen können. Auch haben wir ein niedliches Schweindl mitgebracht. Es ist zwar das Kleinste gewesen von  allen, dafür auch das Billigste. Deshalb sind uns noch ein paar Markl übrig  geblieben zum Einkehren." Ich war todmüde und konnte das Gelallte meines  Bruders nicht mehr ertragen. Grantig fuhr ich ihn an: „Schau bloß, dass du ins  Bett kommst! Du bist ja stockbesoffen! Der Herr Lehrer wird dir morgen schon ordentlich einheizen. Bestimmt sind auch die Befürchtungen der Mama wahr geworden, und ihr habt den Nestbatzen vom Hacklbauer seiner Sau genommen." Bevor sich der Schorsch schwer- fällig ins Bett fallen ließ, hörte ich ihn noch  granteln: „Was den Lehrer betrifft: Der kann mich mal!" Kurz darauf war nur mehr  sein monotones Schnarchen vernehmbar.

Am nächsten Morgen kam die Mutter mehrere Male polternd die Stiege hoch, weil der Schorschi einfach nicht aufstehen wollte. Zuletzt nahm sie ihm die Decke weg und schüttelte ihn kräftig durch. Schlaf- trunken schwankte er hinunter in die  Küche. Drei Minuten vor acht waren wir im Klassenzimmer. Der Schorsch sah aus  wie eine zerzauste Henne. Die Haare standen ihm zu Berge, und der Joppenkragen  war nach innen gekrempelt. Als wir das Mor­gengebet im Stehen herunterleierten,  hatte ich schon ein ungutes Gefühl. Der Schorsch war kreidebleich im Gesicht.  Doch zunächst schien alles bestens zu laufen. Unser Lehrer trug einen hellen,  gestreiften Anzug, was darauf hindeutete, dass er guter Laune war. Gleich zu  Beginn des Unterrichts forderte er uns auf, die Hausaufgaben auf die Schulbank  zu legen. Er schien es nicht eilig zu haben, denn er blätterte geraume Zeit in  einem Buch, das auf seinem Katheder lag. Doch dann war es soweit. Mit schnellen  Schritten kam er näher. Wie ein waschechter Militärhengst stellte er sich eine Weile neben mich, um meinen Eintrag zu kontrollieren. 

Dicke rote Striche


Plötzlich verdunkelte sich sein Blick. Wie ein Habicht, der auf seine Beute lauert, sah er mich an. Mich schauderte. Mit einem roten Stift machte er dicke Striche in mein Heft. Obwohl ich dreinschaute wie ein unschuldiges Lämmlein, klatschten zwei saftige Schelln gegen meine Backen. Anschließend zog mich der Lehrer so fest an den Ohren, dass ich laut aufschrie. Dann kam mein Bruder an die Reihe. Ein flüchtiger Blick in sein Heft reichte und schon hatte er gesehen, was er sehen wollte. Wütend schrie er den Schorschi an: „Du Saubub, bist gestern nicht in die Schule gekommen. Gewiss hast du wieder die Schulkrankheit gehabt. Kommst daher wie ein Fliegengirgl und glaubst, du hättest es nicht nötig, regelmäßig die Schule zu besuchen. Kannst hinten und vom nix. So, und jetzt sagst du mir, warum ihr beide die selben Fehler gemacht habt bei der Hausaufgabe!"  Angstgequält stotterte der Schorsch: „Herr Lehrer, warum soll es so etwas nicht geben, dass wir die selben Rechnungen nicht kapiert haben?" Nun geriet der Lehrer völlig außer Rand und Band. Dreimal schlug er mit der Faust auf den Tisch. Dann brüllte er noch heftiger: „Lüg nicht so saudumm! Willst mich wohl auf den Arm nehmen? Es ist in beiden Heften die selbe Schrift. Da gibt es keinen Zweifel. Also sag die Wahrheit oder ich hau dich durch Sonn' und Mond!" Es folgte eine kurze, unheimliche Stille. Schließlich meldete ich mich weinerlich zu Wort: „Herr Lehrer. ich will Ihnen sagen, wie alles ist. Unser Kleinster, der Simmerl, war krank und hat andauernd geschrieen. Der Schorschi hat öfter mal die Windeln wechseln müssen. Dabei sind natürlich seine Hände dreckig geworden. Deshalb habe ich ihm die Aufgaben ins Heft geschrieben. Das Ergebnis hat er freilich selber ausrechnen müssen. Es wäre doch ganz schlecht gewesen, wenn er mit seinen stinkigen Händen das Heft voll gemacht hätte." Als der Lehrer höhnisch zu lachen begann, stimmte die ganze Klasse mit ein. Nach der  Hausaufgabenkontrolle musste ein großer Teil der Buben den prügelharten Weg zum Katheder antreten. Natürlich waren auch mein Bruder und ich unter den Unglücklichen. Kurz bevor der Lehrer seinen "Spanischen" auf meine gestreckte Hand herniedersausen ließ, stotterte ich verzweifelt: „Herr Lehrer, die vier zugedachten Tatzen müssten eigentlich halbiert werden. Schließlich hat doch  jeder von uns beiden die halbe Schuld." Zu meiner Überraschung gab es tatsächlich nur zwei Schläge für jeden. Schmunzelnd meinte der Lehrer nach Ausführung der Strafe: „Zwei tragen die Last gewiss leichter als einer."

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