LESEPROBE
Auszug aus dem Buch ,,Das verlorene Paradies"
Die Zeit schreitet erbarmungslos voran. Schließlich steht Maria Lichtmess vor der Tür, der Ein- und Ausstandstag im bäuerlichen Leben. Für die Maria heißt es nun Abschied nehmen von Zuhause. Noch ist das Mädchen keine elf Jahre alt. Tief gebückt, als trage sie eine unendlich schwere Last auf ihren Schultern, schnürt die Mutter die wenigen Habseligkeiten der Maria zu einem Kleiderbündel zusammen. Dabei spricht sie ihrer Tochter Mut zu: ,,Maria, sei nicht gar so traurig. Auch wenn dir dein neues Zuhause zu- nächst fremd erscheint, so wirst du wenigstens genug zu essen bekommen und am Jahresende sogar noch einige Mark an Lohn. Die Schulsachen darfst du auf keinen Fall vergessen, denn in der dortigen Gemeinde musst du selbstverständlich auch zur Schule gehen. Ich fühle mit dir, wie schwer es dir fällt. Du bist noch so jung und tätest eher ins warme Nest der Familie gehören. Aber was soll ich machen? Nächtelang habe ich nachgedacht, aber ich habe keinen anderen Ausweg gefunden. Es ist zum Heulen!"
Eine alte Bauernregel sagt:
,,Der Tag wächst und ebenso die Kält'. Und hat der Februar dieselbe Kraft wie der Januar, dann erfriert das Kalb in der Kuh." Fast einen halben Meter hoch liegt der Schnee und deckt die weite
Landschaft mit prächtigem Weiß zu. Traurig verlassen die Maria und ihre Mutter schon in aller Früh das Haus. Mit Rucksack und Kirm auf dem Rücken geht es hinaus in den noch dunklen Morgen. Es sind
gut acht Kilometer bis Sünding, dem künftigen Verdingplatz der Maria: ein beschwerlicher Weg durch ein schier nimmer endendes Waldgebiet. Es herrscht eine unheimliche Stille weit und breit. Nur
hin und wieder sind die herausfordernden, krächzenden Laute einiger Krähen zu hören. Zum Glück hat auf dem Holzbacher Weg ein Fuhrwerk seine Spur im Schnee hinterlassen. Eine Weile stapfen die Maria
und ihre Mutter schweigend des Weges, ganz versunken in Gedanken. Dann zieht die Mutter ihren Rosenkranz aus der Manteltasche, betet drei Vaterunser und sagt aufmunternd zu ihrer Tochter: ,,Schau
Maria! Aller Anfang ist schwer, aber die Zeit verrinnt so schnell. Was dir heute noch tief traurig erscheinen mag, wendet sich oft bald wieder zum Guten. Glaube mir: Ich hatte es als Kind nicht viel
besser als du. Ich musste auch in jungen Jahren zu einem Bauern. Mit Schaudern denke ich an diese Zeit zurück. Man konnte dem Bauern nie genug arbeiten. Schon am frühen Morgen mussten wir hinaus aufs
Feld und erst spät abends kamen wir zurück von der Arbeit; dazu die vielen Schläge und das wenige Essen. Ich bin des öfteren ausgerissen und den weit über zehn Kilometer langen Weg nach Hause
gelaufen. Doch all mein Jammern und Flehen half nichts. Die Eltern schickten mich immer wieder zurück. Wir armen Leute müssen unser Schicksal tragen. Hoffentlich haben wir es wenigstens im Himmel
einmal besser!"
Die Maria hat der Mutter wortlos zugehört. Da sie nur loses Schuhwerk anhat schmerzen ihre Füße von der Kälte und der Nässe. Doch sie klagt nicht. Immer wieder betet die Mutter zwischendurch eine
Strophe des schmerzenreichen Rosenkranzes. Auf halber Wegstrecke, beim Sündinger Schacht, machen sie eine kurze Rast. Unsicher blickt die Mutter um sich und meint: ,,Hier sollen in den Raunächten
schreckliche Hoimänner, Hexen und allerlei wildes Goich ihr Unwesen treiben. Der dichte Wald wirkt richtig unheimlich ..."
An dieser Stelle
unterbricht die Maria ihre Mutter: ,,Mama, weil du gerade von Geistern redest. Da fällt mir ein Traum ein, den ich letzte Nacht hatte. Es war schrecklich: ,Auf dem Heimweg von der Schule
überraschte mich ein Gewitter. Der Regen prasselte auf mich herab und ich rannte so schnell ich nur konnte. Plötzlich verfolgte mich ein grässlich aussehender Mann. So schnell ich auch lief, der Mann
holte mich ein. Er würgte mich am Hals. Ich bekam keine Luft mehr und glaubte zu ersticken. Da wachte ich schweißgebadet im Bett auf."
,,Schau Maria, dort vorne kann man schon den Blümlberg mit seinem Wahrzeichen, der runden Wallfahrtskapelle, erkennen. Bald haben wir es geschafft", muntert die Mutter ihre Tochter auf. Doch die
Maria ist viel zu erschöpft von dem langen Marsch durch die verschneiten Waldwege. Entkräftet stöhnt sie: ,,Ach Mutter, der Kirchturm ist aber noch ein gehöriges Stück entfernt." Bevor sie weiter
redet, macht sie eine kurze Verschnaufpause: ,,Da fällt mir gerade ein Spruch ein, den unseres Kooperators ein. Er hat mich damals sehr nachdenklich gemacht. ,Die Leute sagen: Dort weit drüben über
den Bergen, da wohne das große Glück. Doch welch große Enttäuschung hat jener Wagemutige erlebt. Er kam völlig zerbrochen nach Hause zurück.'"
Die Mutter hat kaum hingehört, denn sie ist ganz vertieft ins Gebet. Gerade hat sie zweimal den ganzen Rosenkranz gebetet, um für ihr Kind den Segen vom Herrgott zu erbitten.