LESEPROBE
Fertig machen zum Räumen
Kaum hatten sich die Platzbesetzer gegen Morgengrauen schlafen gelegt - an den abgebrannten Lagerfeuern stieg noch der Rauch auf – da zogen auch schon starke Polizeikräfte im Taxöldener Forst auf. Die Räumung des Hüttendorfes stand scheinbar kurz bevor. Doch bis Mittag tat sich, entgegen allen Vermutungen der Demonstranten, nichts. Erst kurz nach zwölf setzten sich die Polizeibeamten in Bewegung, allerdings nicht vorwärts, sondern rückwärts. Die Polizei hatte ihre ursprüngliche Absicht, das Dorf am dritten Adventssonntag zu räumen, wieder aufgegeben, nachdem Landrat Hans Schuierer sich als Vermittler zwischen den WAA-Gegnern und dem oberpfälzisch-niederbayerischen Polizeipräsidenten Hermann Friker eingeschaltet hatte. Dagegen blieb die Bitte des Landrats an die DWK, sie möge doch die Rodung- en in nächster Zeit einstellen, damit der Weihnachtsfriede im Landkreis gewahrt bleibe, unerfüllt. Ein Sprecher der DWK kündigte statt dessen an, die Rodungen würden auf jeden Fall weitergeführt. Doch zumindest für diesen Tag war die große Konfrontation verhindert worden. Nachmittags setzte ein nicht enden wollender Besucherstrom zum Hüttendorf ein. Wie auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad wurden Lebensmittel, Getränke, Kleidung und Werkzeug von der Bevölkerung in das Lager eingeschleust. Ein Bäcker hatte am Sonntag extra 500 frische Brötchen für die WAA-Gegner gebacken. Alte Menschen kamen zu Besuch ins Lager und ermunterten die jungen Leute durchzuhalten. Platzbesetzer und Besucher bauten das Dorf weiter aus, errichteten zum Teil gemeinsam Barrikaden an den Zufahrtswegen zum Rodungs- gelände. In der Nacht vom 15. zum 16. Dezember hatten nur wenige WAA-Gegner einen guten Schlaf. Schuld daran waren sicherlich nicht nur die extremen Minustemperaturen.
Was würde der nächste Tag bringen?
Diese Ungewissheit lastete auf vielen. Frühmorgens um 5 Uhr waren auf den bayerischen Autobahnen Polizikolonnen in einem bisher nicht gekannten Ausmaß unterwegs. Ihr Ziel: Wackersdorf - "das neue
Gorleben der Republik" - wie eine Wochenzeitung drei Tage später formulierte. Gegen 4 Uhr begannen mehrere tausend Polizeibeamte das Hüttendorf zu umstellen. Bereitschaftspolizisten zogen einen immer
dichter werdenden Polizeikordon um das Rodungsgelände. Anschließend rückten Ein- heiten des Bundesgrenzschutzes nach und räumten mit Motorsägen die ersten Barri- kaden beiseite, damit der
Fahrzeugkonvoi aufschließen konnte. Zwei Stunden später war das gesamte Gelände hermetisch abgeriegelt. Herbeigeeilte Eltern, die zu ihren Kindern ins Hüttendorf kommen wollten, wurden von den
Polizisten zurückgehalten. Landrat Hans Schuierer musste am Roten Kreuz seinen Wagen stoppen, da ihm Polizei- beamte die Anfahrt zum Rodungsplatz untersagten. Zu Fuß eilte er weiter bis vor die
Absperrung des Rodungsplatzes, kletterte mit Zustimmung der Polizisten über die Barrikaden und begab sich ins Lager. Einige Menschen riefen ihm nach, wünschten ihm noch alles Gute für seine
Vermittlungsversuche. Im Hüttendorf versuchte Landrat Schuierer noch einmal mäßigend auf die Demonstranten einzuwirken, bat sie, sich nicht provozieren zu lassen, keine Gewalt anzuwenden. Besorgte
Mitbürger, die außerhalb der Absperrung standen, versuchten die Polizisten zu überzeugen, dass die Hüttendorfbewohner ein Recht hätten da zu sein. Dann folgte die erste Aufforderung der Polizei an
die Besetzer den Platz zu verlassen. Nur wenige mochten diesem Auf- ruf folgen. Gespanntes Warten drinnen und draußen. Nochmals eine Durchsage der Polizei. Laute „Haut ab, haut ab!"- Rufe tönten den
Polizisten entgegen. Schließlich die letzte Warnung aus dem Polizei-Megaphon: „Wer den Platz nicht verlässt, muss nach der Räumung mit einer Anzeige wegen versuchter Nötigung rechnen' Daraufhin
verließ unter anderem Landrat Hans Schuierer das Camp. Kurz danach erschallte das Kommando: „Fertigmachen zur Räumung!" Die Polizisten zogen ihr Helmvisier herunter und stürmten im Laufschritt, mit
Schutzschild und Schlagstöcken bewaffnet, auf die Lichtung zu. Im Nu war der ganze Platz von den weißen Helmen der Bereitschaftspolizisten bedeckt. Die ca. 1500 Demonstranten im Hüttendorf hatten
Menschenketten gebildet und zogen sich eng um das „Freundschaftshaus" zusammen. Eine Gruppe von Autonomen setzte Barrikaden in Brand. Beamte eines Sondereinsatzkommandos trennten mit gezielten
Handkantenschlägen die Demonstranten und griffen immer einzelne WAA-Gegner heraus.
Zwei nachfolgende Uniformierte
hakten die Herausgegriffenen unter und führten sie sofort ab. Demonstranten, die nicht freiwillig mitgehen wollten, wurden entweder vom Platz getragen oder durch den knöcheltiefen Schlamm vom Rodungsplatz gezogen. Kaum jemand leistete bis dahin den Polizisten aktiven Widerstand. Kurz vor 12 Uhr rissen Beamte des Bundesgrenzschutzes bereits die ersten Hütten ab. Plötzlich ging eine Meldung um, dass Sanitätsfahrzeuge angefordert worden seien. In einem be- stimmten Abschnitt des Geländes sollte die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas vorgegangen sein, weil sich ein Teil der WAA-Gegner in Hüttenverschanzt hatte. Die Rede war auch von Auseinandersetzungen mit Holzprügeln und Gummiknüppeln. Außerhalb der Absperrung spielten sich erschütternde Szenen ab. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters standen am Wegrand und weinten hemmungslos. Eine ältere Frau kletterte auf eine brennende Barrikade und schrie minutenlang verzweifelt nach ihren Kindern, bevor sie von Polizisten heruntergeholt wurde.
Landrat Hans Schuierer -
war indessen ständig unterwegs, machte den Polizeiführer immer wieder auf vermeidbare Gewaltmaßnahmen aufmerksam. Nutzte das nichts, nahm er den Fotoapparat zur Hand und hielt einzelne Szenen als Beweismaterial auf Film fest. Mehr als drei Stunden blieb der Landrat, ebenso wie eine Reihe von Bürgermeistern und Kreisräten des Landkreises, im Taxöldener Forst, um sicher zu gehen, dass alles einigermaßen gewaltfrei, wenigstens aber in erträglichem Rahmen ablief. Während die Räumung noch in vollem Gange war, wurde im Auftrag der DWK an einer anderen Stelle im Taxöldener Forst bereits wieder gerodet. Im „Freundschaftshaus" hatte zwischenzeitlich die Polizei Quartier bezogen, während ringsum mit Äxten, Sägen und Stahlseiten Hütte für Hütte geschleift wurde. Am frühen Nachmittag fiel auch dieses zentrale Gebäude der Besetzer dem Räumkommando zum Opfer. Übrig blieb nur ein ca. 6 Meter hohes Holzkreuz. Die Spezial- einheit für Terrorbekämpfung GSG 9 brauchte an diesem Tag nicht einzugreifen. Die Frage, warum die Elitetruppe der Nation überhaupt nach Wackersdorf gebracht wurde, beantwortete das bayerische Innenministerium in seinem Antwortschreiben auf eine schriftliche Anfrage des Landtagsabgeordneten Dietmar Zierer mit folgenden Worten: „Am 15. Dezember 1985 hat das Bayerische Staatsministerium des Innern die Grenzschutz- truppe 9 (GSG 9) beim Bundesminister des Innern zur Unterstützung der bayerischen Bereitschaftspolizei bei der Räumung des Hüttendorfes am 16. Dezember 1985 angefordert. Die GSG 9 ist keine ‚Antiterroreinheit'; sie kann vielmehr bei außergewöhnlichen polizeilichen Lagen angefordert und eingesetzt werden, die den Einsatz von besonders geschulten und speziell ausgerüsteten Einsatzkräften erfordern. Die angeforderten Polizeivollzugsbeamten der GSG 9 standen im Raum Wackersdorf ab Beginn der Räumungs- maßnahmen in den frühen Morgenstunden des 16. Dezember 1985 zur Verfügung. Nachdem der Unterstützungseinsatz der Einheit nicht erforderlich war, wurde sie noch im Verlauf des 16. Dezember 1985 entlassen. Nach der Errichtung eines Hüttendorfes im Verlauf der Großdemonstration am 14. Dezember 1985 begannen bis zu 1000 militante Kernkraftgegner in der Nacht vom 14. auf 15. Dezember 1985 Baumstämmeim unmittelbaren Bereich der Bahngleise bei Altenschwand aufzuschieben, um die Bahnlinie zu blockieren. Polizeibeamte, die zur Beseitigung der Hindernisse im Gleisbereich eingesetzt waren, wurden mit Leuchtmunition beschossen und mit Steinen beworfen. Ferner wurde beobachtet, dass kistenweise Schottersteine ins Innere des Hüttendorfes gebracht wurden. Darüber hinaus wurden Absperrkräfte beim Auftreffen auf vorgeschobene Barrikaden von vermummten und mit Äxten bewaffneten Störern angegriffen.
Diese militante Entwicklung ließ befürchten, dass die Gewalttäter im Hüttendorf bei der Räumung massiven Widerstand leisten würden. Aufgrund des militanten Verhaltens der Störer war es geboten, neben den eigenen Kräften der Spezialeinsatzkommandos auch die Beamten der GSG9, die über einen entsprechenden Ausbildungsstand und besondere körperliche Fertigkeiten verfügen, zur Hüttendorfräumung bereitzuhalten."
Grundsätzlich stellte das bayerische Innenministerium fest:
„Die GSG 9 besteht aus Polizeivollzugsbeamten des Bundes wie alle anderen Einheiten des Bundesgrenz- schutzes auch. Ihr Einsatz beschränkt sich nicht auf die Terrorismusbekämpfung. Polizei Vollzugsbeamte des Bundes können nach Art. 11 Absätze 3 und 5 des Polizeiorganisationsgesetzes in Verbindung mit Art. 35 Absatz 2 Satz 1 des Grundge- setzes und §9 des Bundesgrenzschutzgesetzes zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angefordert und eingesetzt werden. Hierbei haben die Unterstützungskräfte des Bundes die gleichen Befugnisse wie die bayerische Polizei. Sie unterliegen den Weisungen des örtlichen Polizeiführers. Somit gilt auch für die Kräfte des Bundesgrenzschutzes, wie für die eigenen Kräfte, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. des Polizeiaufgabengesetzes. Die Anforderung und die Zurverfügungstellung von Einheiten der GSG 9 für die Räumung des Hüttendorfes bei Wackersdorf am 16. Dezember1985 widerspricht nicht der bayerischen Linie. Die bayerische Linie geht von den Grundsätzen aus, dass Rechts- verstöße nicht hingenommen und Gewalttätigkeiten mit einem entsprechend starken Kräfteansatz und durch konsequentes Einschreiten der Polizei unterbunden werden. Die Verstärkung der bayerischen Polizei durch die Einheiten des Bundesgrenzschutzes einschließlich der GSG 9 entsprach diesen Grundsätzen. Das Staatsministerium des Innern wird auch künftig die GSG 9 anfordern und ggf. einsetzen, wenn dies zur Bewältigung einer außergewöhnlichen Sicherheitslage auch im Bereich der künftigen Wiederaufarbeitungsanlage bei Wackersdorf erforderlich ist."
Da sich etliche Platzbesetzer
auf Baumhäusern und Türmen verschanzt hatten und nicht genug Fahrzeuge bereit standen, um die vielen Demonstranten zum Verhör in die BGS-Kasernen zu bringen, zog sich die Räumung bis kurz vor
Mitternacht hin. Von jedem der 869 Festgenommenen wurden drei Polaroidfotos gemacht, die Personalien aufgenommen und ein Protokoll angefertigt. 170 Personen hatten wegen Nötigung und Widerstand eine
Anzeige zu erwarten. Die Grundlage war rechtens, denn seit Beginn der Rodung existierte im WAA-Gelände eine Baustelle .„Mit Wirksamkeit des Bebauungsplanes", so hatte es Klaus Sagemühl von der DWK
formuliert, „ist der Wald juristisch kein Wald mehr. Bayerns Innenminister Karl Hillermeier, der die Geschehnisse vor Ort
verfolgt hatte, zog ein positives Fazit der Polizeiaktion. Die Räumung habe bewiesen, meinte Hillermeier, dass in Bayern nach Recht und Gesetz gehandelt werde. Rechtswidrige Aktionen finden
im Freistaat keine Duldung. Der Schwandorfer Landrat Hans Schuierer hingegen mochte diese Ansicht des Innenministers ganz und gar nicht teilen. Er bezeichnete die Räumung als „Terror in
Vollendung". Die Verhältnismäßigkeit im Sinne des Polizeiaufgabengesetzes sei auf keinen Fall gewahrt worden. Schuierer weiter: „Ich finde es sehr bedauerlich, wenn BGS und Bereitschaftspolizei
nach
kriegsähnlichen Zuständen mit Maschinenpistolen und Karabinern ausgerüstet, auf
den Platz kommen. Der Höhepunkt an Brutalität aber ist der Einsatz von Polizeihunden gewesen." Auch kritisierte der Schwandorfer Landrat, dass Personen mit oberpfälzischem Dialekt nicht
registriert worden seien. „Hier lagen Willkürakte vor, eindeutige Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz", meinte der Landrat. Auf diese Weise wolle man wohl die Statistik
zurechtbiegen. Nur einen Tag nach der gewaltsamen Räumung des Hüttendorfes im Taxöldener Forst schickte die Regierung der Oberpfalz, kurz vor Dienstschluss der Behörde, eine
Telex-Nachricht an das Landratsamt Schwandorf ab. Empfänger des Schreibens: Landrat Hans Schuierer. Darin wurde dem Landrat mit Hilfe einer Liste von Presseauszügen vorgeworfen, er
habe
anlässlich der Demonstrationen gegen den Bau der WAA in Wackersdorf am 14.
Dezember 1985, sowie in Reden vor Demonstranten, schwere und grob verunglimpfende Vorwürfe unter anderem gegen Innenminister Hillermeier und
gegen die Bayerische Staatsregierung erhoben.
Innenminister Karl Hillermeier
hatte den Regierungspräsidenten der Oberpfalz, Karl Krampol, zuvor in einem Fernschreiben gebeten, den Landrat von Schwandorf zu einer dienstlichen Äußerung aufzufordern und seine Stellungnahme
einer disziplinarrechtlichen Würdigung zu unterziehen.
Der Vorwurf: Schuierer sei als Staatsbeamter zur Zurückhaltung verpflichtet. Schuierers Kommentar: „Ich habe als Politiker gesprochen." In einem Antwortschreiben an den Re- gierungspräsidenten der
Oberpfalz, am Tag vor dem Heiligen Abend, stellte Schuierer klar: „Ich bin weder in der Lage noch bereit, im einzelnen nachzuprüfen, ob ich in den vielfältigen Meldungen der Medien jeweils richtig
wiedergegeben und zitiert wurde. Angesichts der erkennbar großen Zahl von Zuhörern aus dem Kreis der Sicherheitsbehörden am 14. und 15. Dezember 1985 bin ich auch verwundert, dass Sie eine
dienstliche Äußerung meinerseits benötigen, um sich über den Inhalt meiner Rede am 14. Dezember zu informieren. Zu ihrer Unterstützung erlaube ich mir deshalb, Ihnen einen Abdruck des
Manuskripts der Rede zu übersenden."